Er war ein Freund - Nachruf auf Rüdiger von der Forst
07.10.2007: Stachlige Argumente Ausgabe 4/2007
Oktober 1992: Erster Studientag für Politikwissenschaften am OSI (FU). Während Gesine Schwan eine leidenschaftliche Begrüßungsvorlesung hält, fällt mir in der Reihe schräg vor mir ein auch nicht mehr ganz so junger Kommilitone auf. Er folgt der Rede mit einem fast beseelten Lächeln. Ich denke noch: "Was für ein sympathisches Gesicht. Den möchte ich gerne kennen lernen." Umso größer ist die Überraschung, als ich ihn am nächsten Morgen auf meinem U-Bahnhof Sophie-Charlotte-Platz wieder sehe. Es stellt sich heraus, dass er gerade aus Bamberg in eine Wohnung bei mir um die Ecke gezogen ist und am OSI sein in Bamberg begonnenes Politikstudium fortsetzt. Mit ihm ist eine sympathische Freundesclique aus Westfalen, wo er gebürtig herkommt, nach Berlin zum Studium gezogen, um, wie sich später zeigen sollte, für immer hier zu bleiben. Rüdiger war schon 29, weil er sein Abi auf dem zweiten Bildungsweg gemacht hat. Vorher hatte er als gelernter Einzelhandelskaufmann im Supermarkt gearbeitet.
Wir stellten fest, dass wir nicht nur den gleichen Weg zur Uni, sondern auch einen sehr ähnlichen Stundenplan hatten. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen Rüdiger und mir.
Wir verbrachten fast das ganze Studium gemeinsam bis zum Diplom. Wir gluckten soviel zusammen, dass die KommilitonInnen, wie wir später erfuhren, dachten, er sei auch schwul, und wir beide seien ein Paar. Wir unterstützten uns gegenseitig bei Hausarbeiten, bei der Diplomarbeit und -prüfung und wohnten zeitweilig im gleichen Haus Tür an Tür. Und wir wurden gemeinsam politisch aktiv. Zunächst im Rahmen der Uni. Nie werde ich vergessen, wie wir im Unistreik 1993 als Delegation des OSI zu zweit auf der Ensembleversammlung des Schillertheaters auftauchten, nachdem gerade die Nachricht der bevorstehenden Schließung desselben in ein OSI-Plenum geplatzt war. Wir erklärten unsere Solidarität, arrangierten eine Podiumsdiskussion mit Altvater und Theaterleuten und eine Aktion der OSI-Studies zu Beginn einer Vorstellung, die sogar den Weg in die ARD-Tagesthemen schaffte. Was waren wir stolz! Uns wurde klar, dass wir zu zweit ein tolles Team abgaben.
Meinen Aktivitäten bei den Grünen stand Rüdiger zunächst skeptisch gegenüber. "Du siehst ja alles nur noch durch die Parteibrille", warf er mir häufig vor. Dann machte er jedoch ein Praktikum im KV Charlottenburg und fühlte sich inhaltlich und menschlich gut aufgehoben. Als in Wilmersdorf 1997 die Stelle der Geschäftsführung von Kreisverband und BVV-Fraktion ausgeschrieben war, bewarb er sich - und bekam den Job! "Das ist genial!" brüllte er immer wieder vor Begeisterung ins Telefon. Vor dem Diplomabschluss schon eine feste Stelle zu haben, ist für Politologen wie ein Lottogewinn, und das machte ihn zu Recht mächtig stolz und glücklich.
Er hat den Job fantastisch ausgefüllt, sechs Jahre lang! Alle schätzten seinen Fleiß, sein organisatorisches Geschick, sein Ordnungstalent, seine Zuverlässigkeit, seine Fähigkeiten sowohl im eigenständigen Arbeiten, als auch im Team und nicht zuletzt seinen Humor. Rüdiger war ein Mann der Ideen, der Strategien und vor allem der Tat! Und das bewies er immer wieder. Schon vor der Bezirksfusion übernahm er auch noch den gleichen Job in Charlottenburg, so dass wir ideal gemanagt fusionierten. Die ersten gemeinsamen Stachel hat er entworfen. In Wahlkämpfen mobilisierte er alles, was in seinen Kräften stand, und manches Mal, aus heutiger Sicht gesehen, vielleicht auch darüber hinaus. Wir Grünen muten unseren MitarbeiterInnen, auch wenn sie nur für Teilzeit bezahlt werden, so einiges zu.
Wir genossen es, ab 2000 wieder gemeinsam in einem Team zu sein, denn durch meine Funktionen (Fraktionsvorsitz, später Kreisvorstand) arbeiteten wir wieder aufs Engste zusammen. Freundschaft bewährt sich dann, wenn es stressig wird, und dass unser Job oft Stress bedeutet, brauche ich hier nicht zu erklären.
Mit niemandem sonst machte es soviel Spaß, über die richtige Strategie zu was auch immer stundenlang zu streiten. Und wir stritten viel, denn er war ein Sturkopf. Aber seine Sturheit zahlte sich häufig aus. Rüdiger hatte ein unheimlich gutes Gespür für politische Situationen, und er lag mit seinen Prognosen oft genau richtig. Er war ein hervorragender Stratege und blieb dabei immer in hohem Maße glaubwürdig. Er wurde vom anfänglich parteikritischen Studierenden auf sehr authentische Weise ein loyaler bündnisgrüner Parteifunktionär, der immer auch den Mut hatte zur Kritik, die sich aber immer nur nach innen richtete. So hat er den Kreisverband im Landesfinanzrat sehr kritisch vertreten, er ging so mancher Angelegenheit auf den Grund und gab nicht eher Ruhe, bis alles geklärt war.
Nach sechs Jahren als Geschäftsführer in CharWilm suchte er neue Herausforderungen. Er kündigte und übernahm 2003 zunächst nur in Mutterschaftsvertretung für Petra von Klinski die Stelle des Wahlkreismitarbeiters für Franziska Eichstädt-Bohlig. Das war mutig, denn es war klar, dass spätestens zur Bundestagswahl Schluss mit der Stelle sein würde, da Franziska nicht wieder kandidieren wollte. Doch der Mut wurde belohnt: Nach der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 wurde er Geschäftsführer des Bundestagsbüros von Jerzy Montag. Darüber hat er sich wieder riesig gefreut. Schließlich steht man als Politologe immer mit einem Fuß halb im Arbeitsamt.
Rüdiger blieb dem Kreisverband CharWilm treu, obwohl er schon lange nach Schöneberg umgezogen war. Er war fast durchgängig Landesdelegierter, oft Bundesdelegierter, zuletzt auch im Landesausschuss. Nachdem er jahrelang die Finanzen des Kreisverbandes geregelt hatte, wurde er 2006 als Finanzverantwortlicher Mitglied im Kreisvorstand und dieses Jahr wiedergewählt.
Da ich nach Tempelhof-Schöneberg gewechselt war, sahen wir uns nicht mehr so häufig, aber ab und zu - viel zu selten - musste einfach eine Kneipensitzung sein, um die aktuellen politischen und privaten Geschehnisse zu durchleuchten. Rüdiger konnte unglaublich gut zuhören und war ein exzellenter, grundehrlicher Ratgeber. Ihm gefiel die Stellung in der zweiten Reihe durchaus, denn er war kein Mann der großen Auftritte. Deswegen vermied er lange Zeit auch Reden auf Parteitagen oder dergleichen. Er war frei von jeder Eitelkeit (es sei denn, es ging um seine ersten grauen Haare). Er war ein höchst kompetenter Zuarbeiter und hatte daran auch großen Spaß. Aber er verfolgte auch beharrlich und konsequent eigene politische und organisatorische Ideen und das häufig mit Erfolg. Die letzte Satzungsänderung zur Änderung des Status der Landesgeschäftsführung hatte er maßgeblich vorangetrieben. So wuchs nach und nach der Respekt ihm gegenüber und er gewann an Einfluss im Landesverband.
In vielen klassischen Schauspielstücken gibt es die Rolle des "Freundes". Diese Rolle entsprach ihm und er füllte sie perfekt aus. Er hatteeinen großen Freundeskreis, den er sehr bewusst pflegte. Wohl mindestens ein halbes Dutzend Menschen haben mit Rüdiger ihren bestenFreund verloren. Erst jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir auf, mit wie vielen Männern und Frauen Rüdiger eine wirklich enge, guteFreundschaft verband. Hier war er auf seine verbindliche aber unprätentiöse Art Mittelpunkt. Es war schön, sich in diesem Kreis zu treffen. Legendär die langen Frühstücksgelage bei ihm zuhause an seinen Geburtstagen oder anderen Feiertagen mit Kind und Kegel all seiner Freundinnen und Freunde. Seinen Vierzigsten feierte diese Runde in der Stadt Brandenburg, wo sein Segelboot, das er sich mit Boris Buchholz zusammen gekauft hatte (die beiden verband seit der gemeinsamen Erstellung des CharWilmer Stachels eine brüderliche Freundschaft), vor Anker lag. Auf diesem Boot verbrachte er nun meist seine Ferien. Das passte zu ihm, ein entspanntes Dahinschippern auf Brandenburger Seen, statt wie früher in die Ferne zu schweifen (als junger Mann war er monatelang in der Türkei, Indien und Nepal unterwegs).
Auf diesem Boot fand ihn Bibbi, seine Freundin, am Morgen des 24. Juli, als sie nach einem kurzen Landgang zurückkam - leblos -, jede Hilfe kam zu spät. Rüdiger von der Forst wurde 43. Es ist nicht in Worte zu fassen, wie er uns fehlt.
Thomas Birk, MdA