Aufarbeitung der Pädophilie-Debatte
10.12.2013: Artikel in den Stachligen Argumenten vom Dezember 2013
Wer auf den Bundestagswahlkampf zurückblickt, darf die Debatte um die Pädophilie-Verstrickungen der Grünen in ihren Anfangsjahren nicht ausblenden. Diese Debatte hat vor allem die letzten Wochen und Tage vor dem Wahltag beherrscht. Und sie hat schwere Fehler der Partei in der Vergangenheit, aber auch eklatante Versäumnissen im Umgang mit unserer eigenen, schwierigen Geschichte offen gelegt. Der Wahlkampf liegt mittlerweile hinter uns, das öffentliche Interesse an dem Thema hat nachgelassen. Können wir es damit auch als Grüne ad acta legen? Im Gegenteil: Eine echte Aufarbeitung ist keine Frage der Wahlkampf-Auswertung, sondern ein Teil der Verantwortung, die wir als Organisation tragen und der wir endlich gerecht werden müssen.
Neu sind die Vorwürfe nicht, dass sich einzelne Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen in den 80er Jahren für die Entkriminalisierung von pädophilen Handlungen engagiert haben. Aber erst ab den 2010er Jahren, im Zuge der Debatte über Gewalt und Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen und Internaten wurde zunächst zaghaft, zuletzt im heftiger der Vorwurf gegen die Partei laut, sie habe in ihren westdeutschen Gründerjahren aktive Pädophile in ihren Reihen geduldet. In den Fokus rückten auch Passagen im ersten Grundsatzprogramm von 1980 und in einigen frühen Landesprogrammen, die Forderungen nach Abschaffung oder Relativierung der Paragrafen 174 StGB (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) und 176 StGB (Sexueller Missbrauch von Kindern) enthalten. Selbstkritisch müssen wir als Grüne eingestehen, dass wir diese Vorwürfe zunächst abgewehrt und erst viel zu spät, nach und nach eingestanden haben.
Es war deshalb eine richtige Entscheidung vom alten Bundesvorstand, ein Forschungsteam um Professor Franz Walter mit der Aufgabe zu betrauen, dieses düstere Kapitel der grünen Geschichte wissenschaftlich aufzuarbeiten. Denn dafür fehlte und fehlt der Partei nicht nur das historiographische Know-how, sondern als "betroffener Organisation" auch das erforderliche Maß der Unabhängigkeit. Allerdings wurde in den vergangenen Monaten deutlich, dass die Vergabe eines Auftrags an externe Wissenschaftler*innen nicht ausreicht. Wir müssen als Grüne selber aktiv zur Aufarbeitung und Aufklärung beitragen und dabei alle Möglichkeiten ausschöpfen, die uns dafür zur Verfügung stehen. Wir müssen uns mit der Frage befassen wie und warum es möglich war, dass die Forderung nach Straffreiheit für vermeintlich "einvernehmliche" pädophile Handlungen in der grünen Partei Raum greifen konnte, warum wir so lange dazu geschwiegen haben und was für Konsequenzen wir aus den gewonnenen Erkenntnissen ziehen, insbesondere im Hinblick auf die Leidtragenden von Missbrauch. Dieser Aufgabe muss sich auch der Berliner Landesverband stellen.
Nach bisherigem Kenntnisstand war die Forderung nach Abschaffung der Paragrafen 174 und 176 StGB im AL-Wahlprogramm von 1981 und wahrscheinlich als Minderheitenvotum auch im AL-Wahlprogramm 1985 enthalten. Das Grundsatzprogramm und das Landeswahlprogramm von 1981 enthalten Hinweise, dass die Frage der Pädophilie damals in der Partei umstritten war. Dies bestätigen zumindest Zeitzeug*innen und spiegelt sich auch in diversen Unterlagen von damals wieder. Es ist gleichzeitig eine Tatsache, dass insbesondere Frauen in der grün-alternativen Gründungsphase vehement gegen Missbrauch und eine Verharmlosung sexueller Gewalt gegen Kinder gekämpft haben. Die Gründung von Opferschutz-Organisationen und für Prävention fand im selben Zeitraum und zum Teil direkt aus der AL heraus statt.
Dennoch hielt die Diskussion über das Thema in Teilen der Berliner Grünen an, auch nachdem sich die Bundesebene Ende der 80er Jahre klar von den Forderungen nach Straffreiheit für Pädophilie distanziert hatte. Im Landesverband gab es noch bis 1994 heftige Debatten in den Stachligen Argumenten zwischen den Kreuzberger Frauen, die die "Pädos bei den Grünen" kritisierten und Autoren, die einvernehmliche Sexualität zwischen Männern und Jungen für möglich hielten und entkriminalisieren wollten. Als ein aktives Mitglied des Schwulenbereichs 1995 wegen Missbrauchs an einem Jungen verurteilt wurde, distanzierte sich der damalige Vorstand des Schwulenbereichs. Dann verstummte die Debatte um Pädophilie im Berliner Landesverband, ohne dass es eine wirkliche Aufarbeitung der grün-alternativen Parteigeschichte gegeben hätte.
Eine positive Ausnahme ist ein Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz von 2010, der unter der Überschrift "Aufklärung und Schutz vor sexueller Gewalt" auch die eigene Vergangenheit selbstkritisch beleuchtet. Allerdings fehlte in dem Beschluss ein ganz wesentliche Aspekt: Das Leid der Kinder, die - möglicherweise durch Menschen, die sich durch die grünen Forderungen nach Straffreiheit ermutigt fühlten - sexuelle Gewalt erfahren haben. Die Kinder von damals sind heute erwachsene Menschen. Wir sind es den Betroffenen, aber auch allen andern Opfern von Missbrauch, der Öffentlichkeit und uns selbst schuldig, Antworten auf die oben genannten Fragen zu finden. Denn nur wer um seine Fehler weiß, sie ehrlich bereut und daraus die richtigen Lehren zieht, kann sich dafür auch glaubhaft entschuldigen.
Bettina Jarasch und Daniel Wesener, Landesvorsitzende
Thomas Birk, MdA, Queerpolitischer Sprecher