Vortrag: Netzwerke der Solidarität zwischen Selbstbestimmung und neuen Pflichten einer Helfergesellschaft

16.06.2010: Votrag, gehalten beim Fachgespräch: Lebenskonzepte - nachhaltig & geschlechtergerecht?

1. Individuelle Freiheit und neue Gemeinschaftsformen Zwei Entwicklungen in der mitteleuropäischen Großstadtgesellschaft sind zu beobachten: Der Trend zum Single nimmt zu. Der Drang nach individueller Freiheit verbunden mit der Gefahr der Vereinsamung ist gerade in Großstädten zu beobachten. Der Anteil der Einpersonenhaushalte wächst dort beständig. Bundesweit waren 2008 39,4 % der Haushalte Singelhaushalte, in Berlin sogar 53,3 %. Durch die hohe Scheidungs- und Trennungsquote, der zunehmenden Kinderlosigkeit, der örtlichen Trennung der Familien aus Arbeitsmarktgründen und der Flexibilisierung der Wohnortsuche sowie die lange Lebenserwartung werden Familienangehörige oder frühere PartnerInnen oft auch unfreiwillig allein bleiben, gerade im Alter, aber auch durch Lebenskrisen oder Krankheiten.

Mit der zunehmenden Auflösung des traditionellen Familienbildes und als Gegenentwicklung zur reinen Singlegesellschaft sind unterschiedliche Gemeinschafts- und Wohnmodelle in Erprobung bzw. längst gelebte Praxis: Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, Wahlfamilien, Freundschaftliche Netzwerke, alternative Wohnformen, Mehrgenerationenhäuser und -siedlungen, Wohngemeinschaften mit und ohne zusätzliche Betreuung und Pflege.

2. Absicherung der Lebensentwürfe Um die Vielfalt der Lebensentwürfe auszuweiten, bedarf es zunächst zusätzlicher Absicherung der individuellen Familien-, Partnerschafts- oder Solidargemeinschaften z. B. durch die innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen derzeit diskutierte Idee des Familienvertrags und des Solidaritätsvertrags. Der Familienvertrag soll Mehrelternschaften in Regenbogen- und Patchworkfamilien absichern, der Solidaritätsvertrag soll auch zwischen Menschen ohne Kinder oder Liebesbeziehung z. B. in Mehrgenerationenhäusern abgeschlossen werden können.

Inwieweit der Familienvertrag und der Solidaritätsvertrag neben der Absicherung der Kinder- und Elternrechte und Verpflichtungen der VertragspartnerInnen auch Pflichten der Kinder bzw. VertragspartnerInnen gegenüber den Eltern bzw. den Solidaritätsvertragsmitgliedern bei Pflegebedürftigkeit bedeuten, ist eine spannende Frage, die beim Diskurs heute noch eher ausgeklammert wird.

3. Alternative Wohn- und Pflegeformen in der Entwicklung Im Pflegefall gab es vor 20 Jahren meist nur zwei Alternativen: Zuhause durch Angehörige, meist Frauen (Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter) oder im Pflegeheim. Wer begütert und alleinstehend war, ging vielleicht noch vor der Pflege in ein betuchtes Altersheim mit angeschlossener Pflegestation. Die mit geringem Einkommen konnten in öffentliche Seniorenwohnhäuser einziehen. Für den Mittelstand wurde ab den Achtzigern das betreute Wohnen entwickelt. Heute differenziert sich ein viel breiteres Spektrum an Alternativen für Pflege- und Betreuungsformen aus. Die Ursprünge sind vielfältig.

3.1 Die Begründung neuer Helfersysteme im Zuge der Aidsepidemie unter Schwulen Das Aufkommen von Aids hat in der damals gerade erstarkten Schwulenbewegung in der westlichen Welt eine neue Carebewegung ausgelöst, die noch immer beispielhaft ist. Junge schwule Männer, in einer Zeit, wo Schwulsein (plus Aids!) oft noch den Bruch mit der eigenen Familie bedeutete, waren, den nahen eigenen Tod oder den der Freunde vor Augen, zunächst auf sich selbst gestellt. Sie gründeten Selbsthilfegruppen, die nach außen politisch, nach innen die an Aids Erkrankten begleitend wirkten. In mittlerweile über 25 Jahren sind daraus institutionalisierte Netzwerke geworden, die heute durch ihre Professionalisierung auch vor dem Hintergrund der veränderten Krankheitsentwicklung wieder an Wirkung zu verlieren drohen.

3.2 Queere Wohn- und Pflegeformen im Alter Vor diesem Hintergrund diskutiert die schwul-lesbische Community schon lange, wie die durch Emanzipation zu Selbstbewusstein gelangte Generation der jetzt vor dem Rentenalter stehenden ehemals Bewegten im Alter leben möchte. Während einige kleinere Lesbenwohnprojekte schon erfolgreich sind, scheiterten erste Versuche einer queeren Pflegeetage in einem Pankower Pflegeheim oder Bauprojekte für größere schwule Wohnprojekte, da solche Angebote von Menschen, die der Kriegs- und Nachkriegsgeneration angehören, nicht angenommen werden. Mit Spannung wird deswegen das ausfinanzierte erste Großprojekt dieser Art, den "Lebensort Vielfalt" in Charlottenburg für über 40 vorwiegend ältere schwule Männer und einige Frauen erwartet.

Die Zukunft liegt hier m.E. nicht in Großprojekten, sondern in Wohngemeinschaften und Freiwilligennetzwerken.

3.3 Selbstbestimmte Betreuung und Pflege bei psychischen Erkrankungen und Demenz Auch in der Betreuung psychisch erkrankter Menschen und für pflege- und betreuungsbedürftige Menschen im Alter ist eine Abkehr von den Großinstitutionen zu beobachten. Im Zuge der Enthospitalisierung wurden in den 80er und 90er Jahren wohnortnahe Betreuung gestärkt und in großer Zahl Wohnprojekte für Menschen mit psychischen Erkrankungen gegründet, die im Berliner Wohnteilhabegesetz, das am 1. Juli in Kraft tritt, genauso erfasst sind, wie die mindestens 300 Berliner Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz. Über den Boom der Demenz-Wohngemeinschaften droht allerdings das Moment der Selbstbestimmung wieder verloren zu gehen, weil einige Pflegeanbieter einen lukrativen Markt für sich erkannt haben, der ohne aktive Teilhabe von Angehörigen, aktiver Nachbarschaft oder ehrenamtlichen Dritten die Isolation und Fremdbestimmung der BewohnerInnen zu manifestieren droht.

3.4 Andere alternative Wohnformen im Alter Die Mehrgenerationsprojekte und Alten-WG´s, die meist zu einem Zeitpunkt gegründet werden, wo alle Beteiligten auch bei fortgeschrittenem Alter noch aktiv sind, blenden häufig das Thema Pflegebedürftigkeit aus. Hier begegnet mir oft die These, dass durch die Gemeinschaft die BewohnerInnen weniger krank oder pflegebedürftig werden. Das mag zunächst stimmen, aber deswegen werden sie wohl kaum gesund tot umfallen. Es empfiehlt sich, sich auch hier frühzeitig auf eine mögliche Pflegebedürftigkeit einzelner oder später einer Mehrheit einzustellen.

Die Hospizbewegung ist ebenfalls seit Jahren im Wachstum befindlich. Neben festen Häusern sind hier Hospizvereine, die auch ambulante Hospizarbeit anbieten, hervorzuheben.

4. Voraussetzungen für den Erfolg innovativer Wohn- und Pflegeformen Innovative, selbstbestimmte Wohn- und Pflegeformen, die von ambulanten Pflegediensten betreut werden, bieten nur dann tatsächlich die Gewähr für eine bessere Pflege und Betreuung wenn

a) Engagement von Angehörigen, gesetzlichen BetreuerInnen, oder dritten, insbesondere Ehrenamtlichen garantiert ist,

b) zur Unterstützung solcher ehrenamtlichen Strukturen ein professionelles Netzwerk aus hauptamtlich MitarbeiterInnen besteht (die Pflegestützpunkte sind das noch nicht!),

c) die Finanzierung an Qualitätsbedingungen (Personaleinsatz!) geknüpft ist,

d) vor allem dort, wo c) nicht gewährt ist, ordnungsrechtliche Eingriffe zum Schutz der VerbraucherInnen (BewohnerInnen) möglich sind.

Um die Rahmenbedingungen für alternative Wohnprojekte zu befördern, bedarf es einer veränderten Stadtentwicklungspolitik, der Wohnungsmarkt müsste entsprechenden Wohnraum zur Verfügung stellen. Im Sozialraum müssten solidarische Nachbarschaft und Selbsthilfe mehr Förderung erhalten.

Für die heutige Generation der 40- bis 60-Jährigen wird es jenseits der beschriebenen Ansätze noch viel mehr darauf ankommen, frühzeitig Netzwerke im privaten Kreis zu bilden, um sich gegenseitig im Alter und im Pflegefall zu unterstützen. Die Wahlfamilie muss an die Stelle der traditionellen Familie treten, da alle alternativen Strukturen freiwilliges Engagement für ihr Gelingen voraussetzen.

Bei allen beschriebenen Entwicklungen spielen MigrantInnen bisher so gut wie gar keine Rolle, es sei denn als Pflegepersonal. Dies zu ändern, wird noch eine große Herausforderung sein.

5. Der lange Weg zur Geschlechtergerechtigkeit in der Pflege Betreuung und Pflege ist bisher mehrheitlich weiblich. Männer treten bisher vor allem in Leitungsfunktionen der Pflege, im öffentlichen Diskurs, selten an der praktischen Basis als Pfleger, Ehrenamtlicher, Sohn, Ehemann und Partner oder pflegender Freund in Erscheinung. Die Ursachen liegen in tradierten Rollenbildern, im Altersunterschied von Männer und Frauen innerhalb von Beziehungen bei gleichzeitig längerer Lebenserwartung der Frauen und in der schlechten Bezahlung in Pflegeberufen. Auch die BewohnerInnen von Pflegeeinrichtungen oder ambulant betreuten Wohngemeinschaften sind in der großen Mehrheit weiblich, da ihre Partner entweder verstorben sind oder nicht bereit, die Pflege zuhause zu übernehmen. Oft werden Frauen pflegebedürftig und müssen ihre Häuslicheit verlassen, nachdem sie zunächst Ihre Ehemänner oder Lebenspartner zuhause gepflegt haben.

Um das Geschlechterverhältnis in der Pflege zu verbessern, bedarf es sicher eines ganzen Bündels von Maßnahmen und einiger Jahrzehnte. Ein leicht positiver Trend ist bereits zu beobachten: Im Bericht "Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung in privaten Haushalten (MuG III)" ist eine Zunahme der einbezogenen Helfer und Hauptpflegepersonen von 17 % (1991) auf 27 % (2002) zu verzeichnen. Diese Zunahme, die sich inzwischen erhöht haben dürfte, sagt allerdings wenig über den tatsächlichen zeitlichen Anteil der männlichen Pflege aus.

Um so mehr Frauen in Vollzeitarbeitsverhältnissen stehen, um so stärker wird der Druck auf die Politik, Entlastungsmodelle für pflegende Angehörige zu schaffen, die dann auch von Männern genutzt werden können. Um so besser die Bezahlung im Pflegeberuf, um so attraktiver ist er auch für Männer. Um so weniger Ehen und um so weniger Kinder, um so weniger Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter kommen für die Pflege von Vätern, Müttern und Ehemännern in Frage.

Die große Frage ist allerdings, ob an Stelle von weiblichen oder männlichen Verwandten oder besser bezahltem, geschlechterparitätisch besetztem Pflegepersonal dann die schlechtbezahlte und arbeitsrechtlich völlig entmachtete, illegalisierte weibliche Pflegekraft aus Osteuropa oder anderen Zuwanderungsstaaten tritt.

Dies hängt im Wesentlichen auch davon ab, über welche Alterseinkünfte die nächste Generation der Pflegebedürftigen verfügen wird. PessimistInnen sehen uns angesichts des enormen demografischen Wandels vor einem zwangsläufigen Rollback zu Mehrbettzimmern in Massenpflegeheimen für alle diejenigen, die nicht in er Lage sind, dank privater Zusatzabsicherung die Pflege zu bezahlen.

Dies zu verhindern ist eine der großen Herausforderungen der geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, wozu es jetzt der entsprechenden Weichenstellungen bedarf.

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